5426 Kilometer ungenutzte Schienen: VDV und Allianz pro Schiene fordern mehr Tempo bei Reaktivierungen

Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und die Allianz pro Schiene kritisieren den stockenden Fortschritt bei der Reaktivierung von Bahnstrecken in Deutschland. Während die Liste aussichtsreicher Strecken wachse, bleibe die Umsetzung von Projekten schleppend. In den letzten zwei Jahren seien lediglich 21 Streckenkilometer wieder in Betrieb genommen. Beide Verbände fordern eine Vereinfachung der Planungsverfahren und eine Erhöhung der Fördermittel.
Alle zwei Jahre legen VDV und Allianz pro Schiene aktualisierte Vorschläge für Streckenreaktivierungen vor. 74 Strecken mit insgesamt 949 Kilometern sind neu auf der Vorschlagsliste hinzugekommen. „Es ist klar, mit Reaktivierungen allein werden wir die großen ökonomischen und verkehrlichen Herausforderungen in Deutschland nicht bewältigen – und doch warten wir inzwischen bei 325 Strecken mit 5426 Kilometern Länge auf die Umsetzung der Reaktivierung. Das könnte die Wirtschaft gerade auf regionaler Ebene erheblich stärken“, so VDV-Fachmann Reaktivierung Martin Henke.
379 Städte und Gemeinden ohne Zugang zum Schienenverkehr
Im gesamten Jahr 2024 werden voraussichtlich nur 30 Kilometer Schienenwege reaktiviert. Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene: „Angesichts dieses Schneckentempos müssen Bund und Länder dringend mehr tun, um Initiativen vor Ort zu unterstützen. Die Menschen wollen eine Schienenanbindung. Auch für den Schienengüterverkehr gibt es großes Potenzial.“ 379 Städte und Gemeinden ohne Zugang zum Schienenverkehr könnten durch die vorgeschlagenen Reaktivierungen wieder Anschluss an das Bahnnetz erhalten. Allein in diesen Kommunen wohnen mehr als 3,8 Millionen Menschen – das entspricht der Einwohnerzahl von Berlin.“
Derzeit sind in Deutschland 123 der 900 Mittelzentren ohne Anschluss an die Eisenbahn, U-Bahn, Stadtbahn oder Straßenbahn, darunter 13 Kreisstädte. In 119 der nicht angeschlossenen Mittelzentren sind für die Eisenbahn gebaute, aber nicht mehr genutzte Trassen vorhanden. Für 72 dieser Mittelzentren schlagen VDV und Allianz pro Schiene eine Wiederanbindung an den Eisenbahnverkehr vor, bei 13 weiteren empfehlen sie eine vertiefte Prüfung. Allein in diesen Zentren leben über 1,4 Millionen Menschen. Dirk Flege: „Das Engagement der Menschen vor Ort ist unglaublich. Immer häufiger werden Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben, die Grundlage für eine Entscheidung zur Reaktivierung sind. Bemerkenswert ist, dass mehr als drei Viertel der durchgeführten Machbarkeitsstudien zu einem positiven Ergebnis kommen. Das bedeutet: In den meisten Fällen wird die Reaktivierung als sinnvoll erachtet. Nun geht es darum, Planungsprozesse zu beschleunigen und nicht durch unnötige Bürokratie auszubremsen.“
Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz als entscheidender Hebel
„Das vergangene Jahr hat nicht nur deutlichen Zuwachs bei den Fahrgastzahlen gebracht, sondern auch in einem ganz anderen Bereich: Im so genannten Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) haben die Verkehrsunternehmen mehr Infrastrukturprojekte zur Förderung angemeldet als je zuvor“, so Martin Henke. Das Gesetz wurde im Jahr 2020 novelliert und in diesem Zuge finanziell aufgestockt. Dadurch sei inzwischen eine Verdreifachung der angemeldeten Projekte zu verzeichnen.
Zuletzt waren im GVFG insgesamt 407 Projekte aus den Bereichen „Grunderneuerung“, „Reaktivierung“, „Elektrifizierung“ und „Bahnhöfe, Stationen, Haltestellen“ angemeldet. Henke: „Wir müssen sehen, dass der immense finanzielle Bedarf bei der maroden Infrastruktur in Deutschland finanziell abgedeckt wird – alles andere schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland. Das Erhöhen der GVFG-Fördermittel auf drei Milliarden jährlich ab 2025 hätte eine extreme Hebelwirkung, um unsere Infrastrukturen schneller ausbauen zu können“
Top 5 der Strecken nach Bevölkerung der zu erschließenden Kommunen:
Bottwartalbahn Heilbronn – Marbach (BW): 69.144 Einwohner
Brexbach- bzw. Holzbachtalbahn Engers – Siershahn – Selters – Altenkirchen (RP): 66.266 Einwohner
Wiehltalbahn Osberghausen – Waldbröl (NRW): 63.333 Einwohner
Abelitz – Aurich (NI): 60.359 Einwohner
Primstalbahn Dillingen – Primsweiler (SL): 54.219 Einwohner
Top 10 Strecken nach zu erschließender Bevölkerung pro Strecken-km:
Abzw Rheinkamp Süd – Kamp-Lintfort (NRW) 7.478
Tornesch – Uetersen (SH) 6.165
Wolfratshausen – Geretsried (BY) 5.055
Abelitz – Aurich (NI) 4.643
Iserlohn – Menden (NRW) 4.260
Dillingen – Primsweiler (SL) 4.171
Berlin-Wannsee – Stahnsdorf (B/BB) 3.810
Bedburg – Elsdorf West (NRW) 3.611
Merzbrück – Würselen – Aachen Nord (NRW) 3.519
Kellersberg – Siersdorf (NRW) 3.452
Top 10 der Mittelzentren, deren Anschluss an das Netz des Schienenpersonenverkehrs wir empfehlen, nach Einwohnerzahl:
Bergkamen (NRW), 48.725 Einwohner
Aurich (NI), 41.991 Einwohner
Würselen (NRW), 38.712 Einwohner
Niederkassel (NRW), 38.218 Einwohner
Kamp-Lintfort (NRW), 37.391 Einwohner
Wermelskirchen (NRW), 34.765 Einwohner
Hemer NRW), 34.080 Einwohner
Stuhr (NI), 33.678 Einwohner
Geesthacht (SH), 30.551 Einwohner
Taunusstein (HE), 30.005 Einwohner
Reaktivierungskriterien und Prioritäten
Für die Reaktivierung werden vielfältige Kriterien geprüft. Neben der Streckenlage und der Verbindung zu wichtigen Verkehrsachsen liege ein Schwerpunkt auf der Anbindung von Mittelzentren an Oberzentren. Die Reaktivierungspläne berücksichtigen zudem, wie attraktiv die Schienenverbindung im Vergleich zum bestehenden Busangebot ist, und wie hoch Aufwand und potenzielle Risiken der Wiederinbetriebnahme sind.
Untersucht werde ebenfalls, ob durch Verlängerungen bestehender Zugverbindungen kostengünstigere Betriebsoptionen entstehen. Ziel sei es, die reaktivierten Strecken in ein Grundnetz des Bahn-Regionalverkehrs zu integrieren, um auch positive Effekte auf das Busnetz zu erzielen und überlastete Straßen zu entlasten. Der Nutzen für den Personenfernverkehr und den Güterverkehr, beispielsweise durch Umgehungen stark frequentierter Strecken, werde ebenfalls berücksichtigt.
Die Reaktivierungsprojekte werden in drei Prioritätsstufen unterteilt: „dringlich“, „hoch“ und „potenzieller Bedarf“. Strecken mit „dringlicher“ Priorität sollen sofort reaktiviert werden, da hier ein besonders hohes Potenzial bei moderatem Aufwand bestehe.
Weitere Informationen: https://www.allianz-pro-schiene.de/
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