ReisePuls Deutschland: Nachhaltigkeit ist (noch) ein Wunschtraum und muss der Abwägung der Gäste entzogen werden

Geschrieben von Matthias Burzinski am . Veröffentlicht in Lernkurve (Zukunftsblog)

Grafik ReisePuls Deutschland Reiseentscheidungen

 

Nachhaltigkeit ist seit Jahren einer der Megatrends in der Tourismusbranche. Allerorten wird verkündet, dass Reisen, dass der Tourismus nachhaltiger werden müssen. Bei keinem anderen Thema ist aber auch so viel soziale Erwünschtheit bis hin zu Greenwashing im Spiel. Das zeigen jetzt auch eindrücklich die Ergebnisse aus unserem ReisePuls Deutschland.

Im Rahmen unserer Studie haben wir eine breit angelegte Reiseentscheidungsanalyse durchgeführt. Wir wollten einfach wissen, nach welchen Kriterien jetzt die Entscheidungen für oder gegen ein Reiseziel, eine Reise fallen. Wir wollten aber auch kognitive Verzerrungen möglichst minimieren. Vor allem die so genannte soziale Erwünschtheit ist bei den weit verbreiteten Multiple-Choice-Fragen oder Ranking-Fragen nach Wichtigkeit immer wieder ein großes Problem. Kurz gesagt: Probanden werden trotz Anonymität tendenziell das ankreuzen oder für wichtig halten, von dem sie glauben, dass es eher auf soziale Anerkennung trifft als auf Ablehnung. Wer gibt beispielsweise schon gerne zu, dass er ein/e Umweltverschmutzer*in ist.

Daher haben wir für die Reiseentscheidungsanalyse die spezielle Methodik des Maximum Difference Scaling (MaxDiff) angewandt. Dabei wird die "Soziale Erwünschtheit" zumindest minimiert und Faktoren direkt gegeneinander abgewogen, was zu verlässlicheren Aussagen führt (s. auch Kasten). Beispielhaft werfen wir hier einen Blick auf die Reisenden, die sich in diesem Jahr eine Deutschlandreise vorstellen können.

Grafik MaxDiff

 

Wie entscheiden sich Deutschlandreisende derzeit für oder gegen eine Reise?

In unsicheren Zeiten wie derzeit offenbaren die Entscheidungsanalysen grundsätzlich ein wesentlich fluideres Entscheidungsverhalten. Die Pandemie katapultierte die Sicherheit und den Schutz vor Infektionen bereits im letzten Jahr, im ersten ReisePuls Deutschland im Mai 2020, an die Spitze der Faktoren. Klassische Reiseentscheidungsmuster sind seitdem ausgehebelt, zumindest bei den meisen Reisenden.

Grundsätzlich führen nach wie vor der "Ausreichende Schutz vor Ansteckung" sowie die "Offiziellen Reisewarnungen" die Liste der Faktoren mit dem größten Einfluss auf die Reiseentscheidung, an. Doch die Erlebnisse und Aktivitäten am Reiseziel sowie der Preis, das Wetter und die Erreichbarkeit - vier klassische Faktoren - folgen unmittelbar.

Es folgt eine indifferente Mitte, in der sich verschiedene medizinisch und pandemiegetriebene Faktoren mit anderen klassischen abwechseln. Die Stornierungsbedingungen haben hier gegenüber dem vergangenen Jahr etwas an Bedeutung eingebüßt, was daran liegen könnte, dass viele Reiseanbieter dies mittlerweile standardmäßig anbieten oder die Reisenden ohnehin eher abwartend agieren. Wir haben in unserer Studie auch festgestellt, dass der "Corona-Reisetyp" der "Geduldigen" nach Zulassung funktionierender Impfstoffe angestiegen ist. Es muss auch festgehalten werden: Unter den "Furchtlosen", der kleinsten Gruppe, gelten die alten Entscheidungsmuster weiter fort, als hätte es eine Pandemie nie gegeben.

Hypes werden entlarvt

Alle, die noch auf Instagrammability setzen, sollten in sich gehen und die Substanz dieser Strategie hinterfragen. Gute Fotos- und Filmspots für Postings in sozialen Medien, umgangssprachlich auch als Instagrammability bezeichnet, werden mit weitem Abstand und über alle Zielgruppen hinweg, als nahezu unbedeutend eingestuft. Das MaxDiff-Verfahren offenbart hier: Der Hype ist vorbei, was mit vielen negativen Erfahrungen an diesen Hotspots, aber auch einer Pervertierung dieser Idee zu tun haben dürfte, die letztlich vielerorts einen sinnfreien Overtourism produziert hat. Anbieter*innen und Destinationen, die dieser plakativen Strategie noch folgen, kann man getrost als eher peinlich einstufen.

Nachhaltigkeit stürzt ab

Langfristig gravierender sind jedoch andere Ergebnisse. Die eigentlich ernüchternde Erkenntnis aus unserer Reiseentscheidungsanalyse ist: Der oft propagierte Wandel zu einem nachhaltigen Gewissen der Reisenden lässt sich in der realitätsnahen MaxDiff-Analyse so nicht bestätigen. Im direkten Vergleich mit den anderen Faktoren werden sowohl die Nachhaltigkeit wie auch eine klimaneutrale Anreise überwiegend als deutlich weniger einflussreich eingestuft, in fast allen Zielgruppen.

Viel Bekenntnis, wenig erreicht

Dies muss angesichts der mantrahaft wiederholten Bekenntnisse zur Nachhaltigkeit, auch in der Tourismusbranche selbst, nachdenklich stimmen. Zumal wir in unserem Single Association Test ähnliche Ergebnisse ermittelt haben, einem speziellen Verfahren, das misst, welche Eigenschaften oder emotionalen Motive Gäste und Konsumenten beispielsweise mit einer einzelnen Marke, Kategorie oder einem Konzept assoziieren. Ein Schwerpunkt unseres Tests sind Assoziationen zum Thema Nachhaltigkeit, Klima und Naturschutz in Verbindung mit Reisen.

Die desillusionierende Erkenntnis auch hier – analog zu den Ergebnissen unserer Reiseentscheidungsanalyse: Zwischen Nachhaltigkeit und Reisen besteht bei den Menschen noch keine assoziative Verknüpfung. Dies kann bei diesem "unbewussten" Verfahren aus verschiedenen Perspektiven gelesen werden: Es gibt keine nachhaltigen Angebote, die Reisenden wollen keine oder sie halten sie möglicherweise auch für unglaubwürdig. Die Reiseentscheidungsanalyse zeigt eindrücklich und empirisch abgesichert, dass im Falle der konkreten Abwägung, die Nachhaltigkeit derzeit bei vielen noch als weniger wichtig eingestuft wird.

Kein Zurück: Nachhaltigkeit muss der Abwägung entzogen werden

Wir werden in den kommenden Jahren sehen, wie sich diese Faktorenkonstellationen weiter verschieben. Und wir können durch Differenzierungen nach Alter oder anderen Merkmalen sehen: Selbstverständlich gibt es sie schon, die nachhaltigen Touristen, in verschiedenen Milieus und Erlebnistypen. Und selbstverständlich ist es nicht ausgeschlossen, dass unsere Gäste nachhaltiger agieren werden.

Noch viel mehr wird es jedoch darauf ankommen, Nachhaltigkeit und den Erhalt der natürlichen, sozialen und kulturellen Grundlagen des Tourismus zum Standard zu machen, um sie so der Gästeabwägung zu entziehen. Erst dann werden wir über die bloßen Bekenntnisse hinauskommen. Es ist im vitalen Interesse des Tourismus, dass er seine Substanz erhält. Falsch wäre es, als Reaktion auf das noch schwache Nachhaltigkeitsbewusstsein der meisten Gäste, angebotsseitig auf eine nachhaltige und klimafreundliche Transformation des Tourismus zu verzichten. Im Gegenteil: Wir sind jetzt gefordert und tragen eine große Mit-Verantwortung, diese anstehende, noch viel bedrohlichere Krise zu meistern.

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