Maike Berndt (dwif Consulting): "Destinationsverantwortung als neues, realistischeres Narrativ für das Destinationsmanagement der Zukunft"

Geschrieben von Matthias Burzinski am . Veröffentlicht in Lernkurve (Zukunftsblog)

MaikeBerndt editedDie Diskussion um die Neuausrichtung des Destinationsmanagements setzt sich fort. Die Geister scheiden sich nicht nur an den Begriffen, sondern auch an den konkreten Aufgaben. Während einige sich ins umfassende, aber von einigen Seiten kritisierte "Lebensraum-Management" stürzen wollen, streben andere nach einer Fokussierung auf die rein touristischen Aufgaben.

dwif Consulting hat versucht hier einen neuen pragmatischen Ansatz zu finden, der sich am international verbreiteten Ideal des Destination Stewardship orientiert. Maike Berndt erklärt uns im (Spät-)Sommerinterview, was die Hintergründe sind. Die Fragen stellte Matthias Burzinski.


destinet: Ihr habt Euch über die Weiterentwicklung des Destinationsmanagements Gedanken gemacht. Was war der Auslöser für Eure Überlegungen?

Maike Berndt: Auslöser war in erster Linie die Diskussion um den Begriff des „Lebensraummanagements“, den wir für die aktuellen Herausforderungen eher kontraproduktiv finden. Denn natürlich werden die Ansprüche an die DMOs – vor allem vor dem Hintergrund der beiden Transformationstreiber Digitalisierung und Nachhaltigkeit – vielfältiger und komplexer. Das Gemeinwohl, also die ausbalancierte Nutzenverteilung aus dem Tourismus auf alle Stakeholder in der Destination, wird zum neuen Paradigma. Und daraus resultiert auch der neue Anspruch, ein ganzheitliches „Lebensraummanagement“ zu betreiben. Mal ganz abgesehen davon, dass die Vokabel äußerst vorbelastet ist, übersteigt dies auch die Möglichkeiten einer DMO – zumal mit der zunehmenden Aufgabenkomplexität die Ressourcen von DMOs leider nur selten proportional mitgewachsen sind.

Wir haben also versucht, die Debatte um den „Lebensraum“ einzuordnen und dabei auch einen Blick in den internationalen Diskurs zu werfen. Herausgekommen ist der Begriff der Destinationsverantwortung als neues, realistischeres Narrativ für das Destinationsmanagement der Zukunft. Er orientiert sich am englischen „destination stewardship“, das auch von weltweiten Organisationen wie der UNWTO oder dem WTTC in diesem Kontext verwendet wird. Und aus unserer Sicht deutlich passender und lösungsorientierter ist.

Brauchen wir überhaupt noch eine ideale Leitlinie für die DMOs? Ist es nicht vielmehr so, dass die Heterogenität der verschiedenen Destinationen, Ihrer räumlichen Zuschnitte, der verschiedenen Rechtsformen der DMOs und auch Ihrer Entwicklungszustände das gar nicht mehr sinnvoll erscheinen lässt?

Natürlich gibt es hier keine „one-fits-all“-Lösungen. Dazu ist die Destinationslandschaft viel zu unterschiedlich: In etablierten Tourismusregionen hat der Tourismus einen ganz anderen Stellenwert als in vielen ländlichen Newcomerdestinationen. Das entscheidet ganz zentral über die Rolle, die der Tourismus in der Gemeinwohldebatte einnehmen kann. Oder auch über die Wahl einer geeigneten Organisationsstruktur. Allzu häufig wird im Kontext der „Lebensraumdebatte“ vorschnell eine Lösung präferiert: die Fusion von Tourismusorganisationen und Standort- bzw. Wirtschaftsförderung, inspiriert von erfolgreichen Beispielen aus Südtirol, Allgäu und Co.

Dabei läuft der Tourismus jedoch in weniger touristischen Regionen Gefahr, als eigenes Aufgabengebiet abgewertet bzw. anderen Bereichen untergeordnet zu werden und so seine Impulswirkung und Gestaltungskraft eher zu verlieren als auszubauen. Zudem erschweren große öffentliche Strukturen die Bildung der für eine ganzheitliche Transformation dringend benötigten agilen Netzwerke und Public-Private-Partnerships.

Hier wünschen wir uns eine deutlich differenziertere Betrachtung der spezifischen Rahmenbedingungen und Herausforderungen in den Destinationen. Auch innovative, neue Lösungsansätze sollten dabei in Erwägung gezogen werden, beispielsweise eine stärkere organisatorische Trennung von Destinationsmarketing und Destinationsmanagement.

result sector 2 thesis 4Ein Ergebnis der eigenland®-Session (30 Teilnehmer:innen, höchste Zustimmung = 5)
von Matthias Burzinski zur Zukunft des Destinationsmanagements
im Rahmen der ITB 2023. Grafik: destinet.de


Was genau versteht Ihr unter "Destinationsverantwortung"?

Man könnte sich natürlich fragen, worin denn nun genau der Unterschied zwischen „Lebensraummanagement“ und „Destinationsverantwortung“ besteht. wenn es um die praktische Umsetzung geht, gibt es da einen sehr feinen Unterschied: Während der Lebensraumansatz davon ausgeht, die DMO müsse in allen Bereichen des „Lebensraumes“ eine führende (Management-)Rolle übernehmen, ist die Idee der "destination stewardship" oder eben der Destinationsverantwortung weniger überfordernd. Denn sie geht davon aus, dass zwar viele Themen des „Lebensraumes“ für die Destinationsentwicklung relevant sind, die DMO sich aber eben nicht alles selbst auf den eigenen Schreibtisch lädt und Projekte isoliert bearbeitet, sondern an den vielen für die Destinationsentwicklung relevanten „Tischen“ sitzt und Gehör findet. Und hier reden wir über eine Vielzahl äußerst komplexer Themen – von Stadtentwicklung über den Arbeitsmarkt bis zum Mobilitätsmanagement. Das können Tourismusverantwortliche schon allein aufgrund der geringen Ressourcen, aber auch der fehlenden Kompetenz und Legitimation, gar nicht alles allein machen. Sie sind auf starke Partner*innen in der Destination angewiesen.

Daher geht es uns bei der Destinationsverantwortung vor allem um ein zentrales Thema, nämlich das Netzwerkmanagement – also das Identifizieren und systematische Einbinden von relevanten Stakeholdern. Damit erfordert Destinationsverantwortung ein gänzlich neues Selbstverständnis der DMO – sie wird zu einer holistisch denkenden Netzwerkorganisation.

In den Projekten, die wir betreuen, und auch in vielen Gesprächen spüren wir, dass zwar eine große Bereitschaft besteht, Dinge zu verändern, aber viele die große Menge an nötigen Anpassungsprozessen nicht mehr stemmen können. Wie kommen wir da zu einer sinnvollen Priorisierung?

Im Grunde subsummieren sich die Transformationsprozesse unter dem Dach der Destinationsverantwortung, die sich ja dadurch auszeichnet, dass die Welt – und die Ansprüche an eine DMO – komplexer und agiler werden. Unter solchen Rahmenbedingungen kann eine Organisation nur bestehen, indem sie auf resiliente Partnerstrukturen und Netzwerke aufbauen kann. Die Priorisierung kommt aus der strategischen Ausrichtung der Destination.

Im Optimalfall gibt es auch eine gemeinsam getragene, über den Tourismus hinausgehende Vision: Wo wollen wir gemeinsam hin? Auf welchen Fixstern steuern wir zu? Welche Themen und Herausforderungen sind bei uns besonders relevant? Wen brauchen wir dazu? Auf dieser Basis kann eine fundierte Netzwerkanalyse helfen, die Kooperationsstrukturen und Lücken im Netzwerk zu identifizieren. Darauf aufbauend können gezielt Netzwerkstrukturen geschaffen und gepflegt werden, die unter dem Dach der gemeinsamen Vision so eigenständig und agil arbeiten sollten, dass konkrete Projekte und ToDos in diesen Strukturen entwickelt und bearbeitet werden. Die DMO sitzt an allen „Tischen“, also in allen Netzwerken, ist aber mal die treibende Kraft, mal eher Akteurin im Hintergrund.

Und was machen die neuen Aufgaben mit den Mitarbeitenden in den DMOs? Wie werden sich deren Qualifikationen verändern müssen?

Natürlich müssen sich vor diesem Hintergrund – und in Anbetracht des neuen Selbstverständnisses als Netzwerkorganisation – auch die Kompetenzen verändern. Die Berücksichtigung der Interessen aller Stakeholder kann nur gelingen, wenn sich neue Formate der Kollaboration und Partizipation durchsetzen – eine neue, ehrlich gemeinte Co-Kreation in der Destinationsentwicklung sozusagen. Dafür brauchen wir Menschen, die nicht nur die Tools und Methoden kennen, sondern auch leidenschaftlich gern im Netzwerk arbeiten, Inhalte in verschiedenen „Stakeholder-Sprachen“ gut kommunizieren können und noch viel besser zuhören können, um auch Sichtweisen anderer Akteur*innen zu verstehen und antizipieren zu können. In anderen Branchen ist ein solches Stakeholder-Management gang und gäbe. Davon können wir noch viel lernen – trauen wir uns einfach!

Euer Unternehmen ist nicht zuletzt auch eines, das der Marktforschung hohe Bedeutung beimisst. Zuletzt wurde auch diskutiert, woran wir den Erfolg des Destinationsmanagement eigentlich bemessen. Was sind die Kennzahlen der Zukunft?

Das stimmt. Für die Arbeit der DMO bedeutet die neue Destinationsverantwortung auch, zu definieren, was – jenseits des stetigen Übernachtungswachstums – eine erfolgreiche Arbeit ausmacht, welche und an welchen Erfolgskriterien das gemessen werden kann. Auch hier wird es keine allgemeingültigen Antworten geben. So wie sich die Strategien und Zielsysteme der DMOs diversifizieren, so wird auch das Spektrum möglicher KPIs breiter.

Eines haben Kennzahlensets der Zukunft aber gemein: Im Mittelpunkt steht stets der Beitrag des Tourismus zum Gemeinwohl in der Region. Hier kann auch im Destinationsmanagement auf die etablierten Systematiken zurückgegriffen werden. Wichtig ist aber ein gemeinsames Verständnis, was Gemeinwohl und Nachhaltigkeit innerhalb der Region ausmacht, wo die Schwerpunkte gelegt werden. Es braucht also schon in der Phase der Vision eine Sensibilisierung und ein Commitment aller wichtigen Stakeholder über die individuelle Schwerpunktsetzung. Daran müssen sich auch die Kennzahlen orientieren, die den Umsetzungserfolg messen.

 

result sector 1 thesis 3Ein Ergebnis der eigenland®-Session (30 Teilnehmer:innen, höchste Zustimmung = 5)
von Matthias Burzinski zur Zukunft des Destinationsmanagements
im Rahmen der ITB 2023. Grafik: destinet.de

 

Und wie geht Ihr selbst als Unternehmen und auch persönlich als Berater*innen mit den erhöhten Anforderungen um?

Unsere Haltung zur neuen Destinationsverantwortung schlägt sich auch in unserem Handeln und unserer wegweisenden Beratung nieder. Dies betrifft sowohl die Entwicklung von Tourismuskonzepten und -strategien als auch die begleitende Beratung von DMOs. Daher sensibilisieren wir unsere Kund*innen und Partner*innen schon früh und geben weitere Argumente für eine erweiterte Perspektive an die Hand. Zudem steht der Blick in das Stakeholdersystem im Fokus. Hier helfen uns erprobte Tools wie Netzwerkanalysen und Akteurslandkarten. Um die Interessen aller Stakeholder gut auszubalacieren, suchen wird stets nach neuen und passfähigen Formaten der Kollaboration und Partizipation und stehen für eine offene und transparente Co-Kreation.

Wo sinnvoll, messen wir auch das Stimmungsbild der Bevölkerung vor Ort zum Tourismus, um auch die Perspektive der Einheimischen frühzeitig einzubeziehen und gehen über die rein touristischen Themen hinaus, um mit allen Partner*innen vor Ort ein Leitbild für die gemeinsame Destinationsverantwortung zu entwerfen und Schnittstellen aufzeigen. Selbstverständlich nehmen wir auch den Paradigmenwechsel bei der organisatorischen Ausrichtung sehr ernst. Die Rolle der DMO als holistische, netzwerkorientierte Begleiterin von Transformationsprozessen verankern wir bewusst in den Köpfen wichtiger Entscheidungstragender und leiten Empfehlungen für neue, agile Netzwerkstrukturen innerhalb der Destination ab.

Und zu guter Letzt sind wir selbst auch immer stärker Teil von interdisziplinären Beratungsnetzwerken, um auf die zunehmende Komplexität der Aufgaben im Sinne unserer Kund*innen reagieren zu können.

Vielen Dank, Maike, für das Interview! Wer das Thema vertiefen möchte, dem sei noch die Zusammenfassung des dwif-Impulses zu diesem Thema empfohlen.

Bild: dwif Consulting

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