Was ist das für eine armselige Vorstellung von "Querdenken"?

Geschrieben von Matthias Burzinski am . Veröffentlicht in Lernkurve (Zukunftsblog)

schreiende Demonstranten Querdenken

 

Im Zuge der Corona-Krise hatte ich relativ früh zu Beginn der Pandemie eine Ideenskizze für eine Corona-Lektion geschrieben - einen jener Texte, in denen wir hier Gedanken zum weiteren Werdegang des Tourismus in der Krise festhalten. Die Skizze, es waren nur ein paar Zeilen, trug die damals noch unbelastete oder - besser gesagt - positiv besetzte Überschrift "Querdenken". Diese Kreativitätstechnik ist eine der frühesten Formen, nach innovativen Ideen und Prozessen zu suchen.
Jetzt gibt es "Querdenken 711" und der Begriff ist - sagen wir mal - für Prozesse, die im Zusammenhang mit Denken i. A. stehen, nicht mehr ganz so gut geeignet.

Für den Tourismus würde Querdenken bedeuten, dass wir die Krise als Herausforderung annehmen, bisherige Denkweisen, Prozesse, Lösungen u.v.m. neu definieren (müssen). Querdenken wird zur Pflicht, wenn es darum geht mit der neuen Situation kreativ umzugehen, vor allem in dem Wissen darum, dass es nie, NIE (!) wieder so sein wird wie vorher. Deshalb haben wir hier auch schon das Loblied auf die Intrapreneure*innen gesungen. Querdenken steht für einen Abschied vom linearen Denken und ist daher - unabhängig vom Alter dieser Kreativitätsmethode - eine jener Techniken, die Disruption und Innovation im digitalen Zeitalter erst ermöglicht.

Die Politiker*innen in verantwortlicher Position, die seit Beginn der Pandemie unser Land navigieren, haben bei aller berechtigten Kritik an so mancher Entscheidung, die getroffen wird und getroffen wurde, eine beachtliche Fähigkeit zum Querdenken gezeigt, ohne unsere Demokratie zu gefährden. So beachtlich, dass man sich dies auch für den Klimawandel wünscht.

Die Verkehrung der Idee des Querdenkens

Nun haben die Akteure*innen rund um Querdenken 711 und alle weiteren damit zusammenhängenden, auch rechtsextremen Gruppierungen diesen Begriff für sich gekapert, was ihr gutes Recht ist. Nur leider verkehren sie die Idee des Querdenkens damit ins Gegenteil. Denn: Es geht gar nicht um echtes Querdenken, also das Wechseln von Perspektiven, um alle Seiten zu verstehen und zu durchdringen. Es geht auch nicht um neue Lösungen oder Innovationen, sondern - und das ist das Fatale - einzig und allein um ein "Zurück" in die gute alte Welt des Vorher, zurück ins Vor-Corona-Biedermeier, mühsam versteckt hinter einem vorgeblichem Kampf ums Grundgesetz, über dessen Ernsthaftigkeit man sich angesichts des heutigen Angriffs auf das Parlament in Berlin sein eigenes Bild machen darf. Ich fürchte sogar, dass ein Großteil der Akteure*innen dieser Bewegung sich am liebsten in eine vordigitale Zeit zurücksehnt, in der die Welt noch seine Ordnung hatte und Disruption noch in keinem Duden stand.

Diese vollkommene Unfähigkeit, sich mit neuen Herausforderungen kreativ auseinanderzusetzen und pro-aktiv vorwärts zu denken, ist erschreckend. Und leider greift dieses rückwärtsgewandte Denken auch in der Tourismusbranche um sich. Aus Kommentaren in sozialen Netzwerken und anderswo lässt sich herauslesen, dass die Krise ihre zermürbende Wirkung entfaltet. Das ist verständlich, wenn es um Existenzen, Lebenswerke, den Beruf geht. Aber trotzdem wird die Lösung nicht die Rückkehr zum Vorher sein - weder für Reisebüros, Veranstalter, Airlines, Gastgeber noch DMOs.

Wir dürfen dagegen demonstrieren. Die Frage ist nur, wie?

Und natürlich dürfen wir alle Kritik üben an den Entscheidungen, die auf politischer oder exekutiver Ebene getroffen werden, an undifferenzierten Reisewarnungen, lückenhaft konstruierten Hilfsprogrammen, schwer nachvollziehbaren Verhaltensregeln etc. Und wir dürfen dagegen demonstrieren. Die Frage ist nur, wie? Die skurrilen, teils als Happening verblödelten oder wahlweise auch aggressiven bis gewalttätigen Auftritte in Berlin, Stuttgart und anderswo sind jedoch keine Demonstration von Handlungsfähigkeit oder Querdenken, sondern von Hilflosigkeit, versteckter Angst im Angesicht einer großen gesellschaftlichen Herausforderung, fehlender Empathie gepaart mit Ich-Bezogenheit und vollkommener Abwesenheit innovativen Denkens.

Ärgerlich ist daher, dass dieser vermeintliche Aktivismus keinerlei Lösungskompetenz in sich birgt. Es wirkt wie das ärgerliche Aufstampfen eines kleinen Kindes, dem man das Spielzeug weggenommen hat, das weinerliche Mimimi eines Narzissten, dem man die Bühne für seine Inszenierung entzogen hat, wie der Dunning-Kruger-Effekt in Reinform. Würde man die Energie für diese Demonstrationen tatsächlich in Lösungen und neue Ideen investieren, wäre viel gewonnen.

Ich nehme mir in diesem freien Land heraus, dafür keinerlei Verständnis aufzubringen. Ich höre mir das an, schaue es mir an und frage mich: Was ist das für eine armselige Vorstellung von Querdenken? Frage mich: Kann ich das Grundgesetz schützen, indem ich mich mit erklärten Feinden des Grundgesetzes verbrüdere?

Dann setze ich mich hin, mache mich an die Arbeit und suche nach neuen Lösungen.